Der Beweiswert einer im Nicht-EU-Ausland ausgestellten Arbeitsunfähigkeitsbescheinigung kann erschüttert sein, wenn nach der vorzunehmenden Gesamtbetrachtung des zu würdigenden Einzelfalls Umstände vorliegen, die zwar für sich betrachtet unverfänglich sein mögen, in der Gesamtschau aber ernsthafte Zweifel am Beweiswert der Bescheinigung begründen. Folge: Den Arbeitnehmer trifft die volle Darlegungs- und Beweislast für das Bestehen der krankheitsbedingten Arbeitsunfähigkeit.
Ein Mann arbeitete seit 2022 als Lagerarbeiter bei einer Arbeitgeberin. Im Sommer 2022 meldete er sich (an einem seiner letzten Urlaubstage) aus Tunesien – ein dortiger Arzt habe ihn krankgeschrieben, er dürfe sich rund drei Wochen weder bewegen noch reisen. Am nächsten Tag buchte er die Rückreise für den Tag, bevor das Attest endete, und trat diese dann auch an. Wieder zurück in Deutschland legte der Lagerarbeiter das Attest eines deutschen Arztes vor, das ihn für eine weitere Woche für arbeitsunfähig krank erklärte.
Die Arbeitgeberin hatte Zweifel an der Arbeitsunfähigkeit ihres Mitarbeiters, lehnte eine Entgeltfortzahlung im Krankheitsfall ab und kürzte die Vergütung entsprechend. Der Mann klagte auf Zahlung – und bekam in zweiter Instanz Recht. Doch das BAG hob das Urteil auf und verwies die Sache zurück.
Richtig sei zwar, so das BAG, dass einer Arbeitsunfähigkeitsbescheinigung, die in einem Land außerhalb der EU ausgestellt wurde, grundsätzlich der gleiche Beweiswert wie einer in Deutschland ausgestellten Bescheinigung zukommt, wenn sie erkennen lässt, dass der ausländische Arzt zwischen einer bloßen Erkrankung und einer mit Arbeitsunfähigkeit verbundenen Krankheit unterschieden hat. Das LAG habe aber bei der Würdigung der von der Arbeitgeberin zur Begründung ihrer Zweifel an der bescheinigten Arbeitsunfähigkeit vorgetragenen tatsächlichen Umstände nur jeden einzelnen Aspekt isoliert betrachtet und die rechtlich gebotene Gesamtwürdigung unterlassen.
Hierbei sei zu berücksichtigen, dass der tunesische Arzt dem Arbeitnehmer für 24 Tage Arbeitsunfähigkeit bescheinigte, ohne eine Wiedervorstellung anzuordnen. Weiter habe der Lagerarbeiter bereits einen Tag nach der attestierten Notwendigkeit häuslicher Ruhe und des Verbots, sich bis zum 30.09.2022 zu bewegen und zu reisen, ein Fährticket für den 29.09.2022 gebucht und habe an diesem Tag die lange Rückreise nach Deutschland angetreten. Hinzu komme, dass er bereits in den Jahren 2017 bis 2020 dreimal unmittelbar nach seinem Urlaub Arbeitsunfähigkeitsbescheinigungen vorgelegt hatte.
Diese Gegebenheiten mögen zwar für sich betrachtet unverfänglich sein. In einer Gesamtschau begründen sie für das BAG indes ernsthafte Zweifel am Beweiswert der Arbeitsunfähigkeitsbescheinigung. Folge sei, dass nunmehr der Arbeitnehmer die volle Darlegungs- und Beweislast für das Bestehen krankheitsbedingter Arbeitsunfähigkeit als Voraussetzung für den Entgeltfortzahlungsanspruch trägt. Da das LAG – aus seiner Sicht konsequent – hierzu keine Feststellungen getroffen hat, sei die Sache insoweit zurückzuverweisen.
Bundesarbeitsgericht, Urteil vom 15.01.2025, 5 AZR 284/24