Der Europäische Gerichtshof (EuGH) hat die Gültigkeit verschiedener Bestimmungen einer Unionsrichtlinie bestätigt, mit der so genannte aggressive Steuerplanung bekämpft werden soll (RL 2011/16/EU über die Zusammenarbeit der Verwaltungsbehörden im Bereich der Besteuerung).
Die Richtlinie sieht vor, dass alle an potenziell aggressiven grenzüberschreitenden Steuergestaltungen (die insbesondere zu Steuervermeidung und -hinterziehung führen können) beteiligten Intermediäre und – falls es keine Intermediäre gibt – der Steuerpflichtige solche Gestaltungen den zuständigen Steuerbehörden melden müssen.
Im Jahr 2020 riefen Vereinigungen von Steueranwälten und Steuerberatern sowie Rechtsanwaltskammern den belgischen Verfassungsgerichtshof an. Sie meinen, dass das belgische Gesetz zur Umsetzung der Richtlinie für nichtig erklärt werden müsse, da die Richtlinie gegen eine Reihe von Bestimmungen der Charta der Grundrechte der Europäischen Union und gegen allgemeine Grundsätze des Unionsrechts verstoße. Der Verfassungsgerichtshof hat entschieden, dem EuGH Fragen zur Vorabentscheidung vorzulegen.
In seinem Urteil stellt der Gerichtshof zunächst fest, dass der Umstand, dass die in der Richtlinie vorgesehene Meldepflicht nicht auf den Bereich der Gesellschaftssteuer beschränkt ist, ihre Gültigkeit im Licht der Grundsätze der Gleichbehandlung und der Nichtdiskriminierung sowie der Artikel 20 und 21 der Charta der Grundrechte nicht berührt.
Sodann stellt er fest, dass der Grad an Bestimmtheit und Klarheit der Terminologie in den von ihm zu prüfenden Bestimmungen der Richtlinie deren Gültigkeit im Licht der Grundsätze der Rechtssicherheit und der Gesetzmäßigkeit in Strafsachen nicht in Frage stellt und dass der mit der Meldepflicht verbundene Eingriff in das Privatleben des Intermediärs und des Steuerpflichtigen im Hinblick auf die Informationen, die diese Meldung enthalten muss, hinreichend genau bestimmt wird.
Überdies habe der EuGH in seinem Urteil vom 08.12.2022 (Orde van Vlaamse Balies und andere) entschieden, dass die einem Rechtsanwalt, der wegen seiner Verschwiegenheitspflicht von der Meldepflicht befreit ist, auferlegte Pflicht, die anderen an der steuerlichen Gestaltung beteiligten Intermediäre über deren Meldepflichten zu unterrichten, das Berufsgeheimnis verletzt. In seinem aktuellen Urteil führt der Gerichtshof aus, dass das Urteil vom 08.12.2022 nur für Rechtsanwälte im Sinne der Richtlinie zur Erleichterung der ständigen Ausübung des Rechtsanwaltsberufs in einem anderen Mitgliedstaat als dem, in dem die Qualifikation erworben wurde, gilt und nicht für etwaige andere zur Vertretung vor Gericht ermächtigte Berufsangehörige. Die Vertraulichkeit der Beziehung zwischen dem Rechtsanwalt und seinem Mandanten genieße einen ganz speziellen Schutz, der sich aus der singulären Stellung des Rechtsanwalts innerhalb der Gerichtsorganisation der Mitgliedstaaten sowie der ihm übertragenen grundlegenden Aufgabe ergibt, die von allen Mitgliedstaaten anerkannt wird.
Schließlich stellt der EuGH fest, dass die Meldepflicht der Intermediäre, die nicht wegen der ihnen obliegenden Verschwiegenheitspflicht von ihr befreit sind, und die subsidiäre Meldepflicht des betreffenden Steuerpflichtigen einen verhältnismäßigen und gerechtfertigten Eingriff in das Recht auf Achtung des Privatlebens, verstanden als das Recht jeder Person, ihr Privatleben zu gestalten, darstellen.
Gerichtshof der Europäischen Union, Urteil vom 29.07.2024, C-623/22