Ein EU-Mitgliedstaat kann einen missbräuchlichen Antrag auf eine Aufenthaltserlaubnis in der EU zu Studienzwecken ablehnen, auch wenn er die Richtlinie, in der diese Befugnis vorgesehen ist, nicht korrekt umgesetzt hat. Dies hat der Europäische Gerichtshof (EuGH) unter Hinweis darauf entschieden, dass das Missbrauchsverbot ein allgemeiner Grundsatz des Unionsrechts sei, der nicht erst umgesetzt werden müsse, um angewandt werden zu können.
2020 beantragte eine kamerunische Staatsangehörige ein Visum, um in Belgien zu studieren. Der belgische Staat lehnte ihren Antrag mit der Begründung ab, dass ihr Studienvorhaben unschlüssig sei. In Wirklichkeit diene ihr Antrag anderen Zwecken als der Absolvierung eines Studiums, da sie nicht tatsächlich beabsichtige, in Belgien zu studieren. Die junge Dame focht diese Entscheidung vor dem belgischen Rat für Ausländerstreitsachen an, der die Klage abwies. Im Januar 2021 rief die Frau den belgischen Staatsrat an. Der wandte sich mit Fragen hierzu an den EuGH.
Dieser stellt klar, dass die Richtlinie über die Einreise und den Aufenthalt von Drittstaatsangehörigen in der EU unter anderem zu Studienzwecken einen Mitgliedstaat nicht daran hindert, einen Antrag auf Zulassung in sein Hoheitsgebiet zu Studienzwecken abzulehnen, wenn der Drittstaatsangehörige diesen Antrag gestellt hat, ohne die tatsächliche Absicht zu haben, dort zu studieren. Dies gelte auch, wenn der betreffende Mitgliedstaat die Vorschrift der Richtlinie, die eine solche Ablehnung gestattet, nicht umgesetzt hat. Das Missbrauchsverbot sei nämlich ein allgemeiner Grundsatz des Unionsrechts, der nicht erst umgesetzt werden müsse, um angewandt werden zu können.
Was die Umstände anbelangt, aus denen auf die Missbräuchlichkeit des Antrags geschlossen werden kann, befindet der EuGH, dass eine solche Schlussfolgerung auf einer Einzelfallprüfung beruhen muss, die eine individuelle Würdigung aller spezifischen Umstände des jeweiligen Antrags umfasst. Insoweit müssten die zuständigen Behörden alle geeigneten Überprüfungen vornehmen und die für eine individuelle Prüfung des Antrags erforderlichen Nachweise verlangen. Auch Unstimmigkeiten des Studienvorhabens des Antragstellers könnten zu den Umständen gehören können, die dazu beitragen, dass ein Missbrauch festgestellt wird – sofern sie offensichtlich sind und im Licht der Umstände des Einzelfalls beurteilt werden.
Gerichtshof der Europäischen Union, Urteil vom 29.07.2024, C-14/23